Rede zum Tag der Befreiung 8. Mai 2012

2. Juni 2012

Angesichts zahlloser Bemühungen, die Befreiung vom Faschismus historisch umzudeuten und die Bedeutung des Tages der Befreiung in den Hintergrund treten zu lassen, berührt mich nach wie vor eine Episode, die meine Mutter gelegentlich erzählte:

Im Mai 1945 stand sie mit mir als Kleinkind auf dem Arm in einer Menschenschlange auf dem Freiaplatz in Berlin- Lichtenberg. Soldaten der Roten Armee biwakierten da, hatten die Feldküche in Betrieb gesetzt und gaben Suppe und Brot an die hungernden Berliner.

Der Koch verteilte die Suppe gerecht, bevorzugte jedoch Frauen mit Kindern. Für Kinderernährung nicht unbedingt geeignete Fettklümpchen tat er wohlmeinend in die Behältnisse. Kinder sollten nicht Mangel leiden.

Die Verteilung wurde durch scharfe Befehle unterbrochen. Soldaten eilten zu den Waffen, saßen auf Fahrzeuge auf und zogen in Richtung Berliner Zentrum.

Als sie zurückkehrten, es hatte ein Gefecht in der Frankfurter Allee gegeben, brachten sie den toten Koch mit. Er war Stunden vor der bedingungslosen Kapitulation der Faschisten durch den Schuss eines Deutschen getötet worden.

Dem auf dem Freiaplatz die letzte Ehre erwiesen wurde, war ein Mensch, der aus den Weiten der Sowjetunion bis nach Berlin gekommen war, kämpfend gegen eine Bestie.

Noch lange nach diesem Tag brachten Menschen an den Ort Blumen.

Die Episode veranlasste mich immer wieder, Gedanken darauf zu verwenden, was die Menschen, die Soldaten der Roten Armee und die auf Suppe wartenden Berlinerinnen und Berliner, wohl damals bewegte.

Vieles deutet darauf hin, dass sechzig Millionen Tote durch Kampfhandlungen, Repressalien, Massenvernichtungsaktionen und Kriegseinwirkungen keine andere Konsequenz als den Wunsch nach dauerhaftem Frieden verlangen konnten.

Im Juni 2009, vierundsechzig Jahre nach den Befreiungstagen von 1945 standen vor dem Lagertor des einstigen Konzentrationslagers Buchenwald zwei Friedennobelpreisträger. US-Präsident Obama war der eine, Oberkommandierender einer Armee, die an verschiedenen Stellen der Welt Krieg führte. Der andere war Elie Wiesel, der als Jugendlicher das entmenschte SS-Regime im Konzentrationslager überlebt hatte.

An den anderen Friedensnobelpreisträger gerichtet sagte Elie Wiesel:

„Ich wurde am 11. April 1945 von der amerikanischen Armee befreit. Viele von uns waren damals überzeugt, dass wenigstens eine Lektion gelernt worden wäre, nämlich dass es nie wieder Krieg geben würde, dass der Hass nichts mehr sei, was sich die Menschen zu eigen machen, dass Rassismus etwas Dummes sei, dass man nicht mehr versuchen würde, in die Gehirne oder Hoheitsgebiete anderer Menschen einzudringen, dass dies alles völlig bedeutungslos werden würde […] Aber [die Lektion] hat die Welt leider nicht [gelernt…] Wird die Welt je lernen?“1

Die Welt wird es nicht können, aber die Menschen, jeder an seinem Ort.

Und deshalb haben wir zu widersprechen, wenn die weltweite Verantwortung Deutschlands als militärischer Auftrag definiert wird, den die Bundeswehr zu erfüllen habe.

Drittgrößter Rüstungsexporteur der Welt zu sein und gleichzeitig Menschenrechte einzuklagen, zeugt nicht davon, lernfähig sein zu wollen und die von Elie Wiesel angemahnte Lektion doch Wirklichkeit werden zu lassen.

Wenn Flüchtlinge als Kriminelle dargestellt werden, die abzuschieben sind, muss unsere Stimme zu hören sein. Wir haben zu widersprechen, wenn Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherungen und Umweltschutz für Standortnachteile ausgegeben werden, die beseitigt werden müssen. Wenn behauptet wird, Löhne müssen gesenkt, Arbeitszeiten verlängert werden, muss widersprochen werden

– es sei denn, wir fühlten uns nicht der Humanität, der Vernunft und der geschichtlichen Erfahrung verpflichtet.2

1 Zitiert nach: Rede von Elie Wiesel, in: www.bundeskanzlerin.de

2 Vgl. Werbetext der Zweiwochenschrift Ossietzky, Beilage Ossietzky Heft 9/2012, 28. April 2012.