Rede zum Gedenktag für die Opfer des Faschismus, Frankfurt (Oder), 11. September 2011

11. September 2011

»Viele Menschen unserer Tage lassen sich Würde und Freiheit nehmen, ohne darüber zu erschrecken und ohne sich dagegen zu wehren. Wir können das nicht mehr, und wir treten dagegen auf als Zeugen, die es ihren Brüdern, die mit dem Leben dafür zu zahlen hatten, schuldig sind, ihr Vermächtnis in Ehren zu halten und ihre Aufgaben zu erfüllen, die sie uns hinterlassen haben. Deshalb stehen wir heute an diesem Opfermal mit dem klaren Bewusstsein, dass wir von den Toten gefragt sind, ob wir den Menschenbrüdern, mit denen wir hier auf Erden leben, wahrhaftig zu einem Leben in Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit zu helfen entschlossen sind. Und darum kommen wir daran nicht vorbei, vor allem zu warnen und im Rahmen des Möglichen gegen all das zu kämpfen, was heute wieder der Unmenschlichkeit Tür und Tor öffnen will. Das Menschsein ist überall da in Gefahr, wo der Mensch zum Mittel für fremde Zwecke erniedrigt wird, und das geschieht in aller totaler Machtpolitik, ob sie sich auch religiös oder weltanschaulich tarnt; es geschieht überall da, wo man kriegerische Gewaltanwendung vorbereitet oder auch nur in Rechnung stellt: Da wird der Mensch zum Faktor, zum Ding, zum Mittel, und er wird nicht mehr als Mensch erkannt und anerkannt. Darum treten wir für die Menschenrechte, für das Recht freier Überzeugung und freier Meinungsäußerung ein, der Glaubensfreiheit, darum wollen wir keine Hasspropaganda und keinen kalten – noch gar heißen – Krieg, sondern Frieden und Freundschaft.«

Diese Worte sprach der Theologe Martin Niemöller 1962, als er eine Gedenkrede anlässlich des fünfzehnten Jahrestages der Gründung der Vereinigung  der Verfolgten des Naziregimes in Frankfurt am Main hielt.

Martin Niemöller, begeisterter U-Boot-Offizier im Ersten Weltkrieg, Kommandant eines Freikorps-Verbandes, ein Nationalkonservativer, der den »Führerstaat« begrüßte, in die Nazipartei eintrat , sich dann jedoch seinem Gewissen als Christ verpflichtet fühlte und schließlich »persönlicher Gefangener des Führers« in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau wurde.
Konsequent hatte er sich in offenen Widerspruch zu offiziellen Leitungsgremien der evangelischen Kirche in Deutschland gesetzt. Er gehörte zur Leitung der Bekennenden Kirche und verwahrte sich gegen Eingriffe des faschistischen Staates in innerkirchliche Angelegenheiten und gegen die faschistische Rassenideologie mit ihren praktischen Auswirkungen.

Martin Niemöller gehörte nach der Befreiung vom Faschismus zu denen, die jede Verharmlosung des Faschismus oder Versuche, ihn wiederzubeleben, entschlossen und energisch zurückwiesen.
Verinnerlicht hatte er das Bekenntnis  »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!« und deshalb verurteilte er die westdeutsche Remilitarisierung, deshalb warnte er unermüdlich vor den Gefahren atomarere Rüstung – als Mitglied des Präsidiums des Weltfriedensrates, als Antifaschist, als Christ, als Mensch.

Niemöllers Rede von vor rund fünfzig Jahren ist von höchster Aktualität, erscheint es doch so, als ließen sich immer mehr Menschen »Würde und Freiheit nehmen, ohne darüber zu erschrecken und ohne sich dagegen zu wehren.«

Wir erleben Kriege in der Welt, unaufhörlichen Chauvinismus, wir erleben sozialen Niedergang, wir erleben Lügen, bewusst gesäte Zwietracht.

Und wir erleben, wie in der Bundesrepublik Deutschland Faschisten von Polizisten geschützt werden, denen ein sehr klares Feindbild indoktriniert ist, weshalb sie friedliche Gegenwehr gegen Faschisten unter dem scheinheiligen Vorwand, erfundenen Linksextremismus bekämpfen zu müssen, zerprügeln. Am vorigen Wochenende in Dortmund geschehen.

Es berührt schon sehr, dass in Mecklenburg-Vorpommern die Nazis wieder in den Landtag einziehen. Demokratische Gegenwehr, oft leider nur herbeigeredete, wirkt offensichtlich nicht so recht und was die Menschen von der praktizierten Demokratie halten, lässt sich mit zweiundfünfzig Prozent Wahlbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern erklären.
Gleichgeschaltete Konzernmedien, Politik an den Menschen vorbei und zumeist zu ihrem Nachteil beeinflussen ebenso wie ungezügelte erpresserische Ausbeutung, wie geschändete Moral das Bild der aktuellen Gesellschaft.

Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es. Die Aussagen der Wahlplakate der NPD in Mecklenburg-Vorpommern wie in Berlin deuten durchaus darauf hin, dass sich Erscheinungen aus der Geschichte wiederbeleben lassen.

Ein wirksames Gegenmittel ist die Verbreitung der Wahrheit durch ständige, nicht erlahmende Aufklärung. Der Gedenktag für die Opfer des Faschismus, der Tag der Erinnerung, Mahnung und Begegnung ist uns Anlass, diesen Appell zu wiederholen, ihm Dringlichkeit zu verleihen.
Die Verhältnisse in der Bundesrepublik verlangen das und dulden keinen Aufschub mehr. Es muss hierzulande gegen rechts gehandelt werden.

Gerhard Hoffmann