Trauerfeier für Günter Pappenheim
10. Mai 2021
Liebe gute Margot, liebe Gudrun, lieber Bernd, liebe Angehörige alle,
verehrter Herr Ministerpräsident,
verehrter Herr Bürgermeister,
liebe Freundinnen, Freunde, Genossinnen, Genossen,
verehrte Anwesende,
der Anlass unseres Zusammentreffens hier auf dem Zeuthener Friedhof bewegt uns zutiefst, weil wir Abschied nehmen müssen und Günter Pappenheim die letzte Ehre erweisen wollen.
Wir haben uns abzufinden mit dem Endgültigen, dem Unumkehrbaren und das ist es, was uns trauern lässt.
Der Lebensweg von Günter Pappenheim ist beendet. Es bleibt die Erinnerung an den geliebten Ehemann, der den 69. Hochzeitstag am 3. Mai diesen Jahres nicht mehr erleben konnte.
So jäh wie das Leben endete die Ehe, die beständige von großer Liebe, uneingeschränktem Vertrauen und höchster gegenseitiger Achtung getragene.
In dieser Ehe gab es Bewährungssituationen und schwere Erschütterungen. Die schwerste war wohl der von ihm unverschuldete tödliche Unfall vom Sohn Jens.
Nur mit tiefer Zuneigung, gegenseitiger Rücksichtnahme, grundsätzlichem Respekt und Verbindlichkeit dem anderen gegenüber ließ sich diese furchtbare Last ertragen.
Die Lücke, die nach fast sieben Jahrzehnten Gemeinsamkeit entstanden ist, ist abgrundtief und lässt sich nicht schließen.
Erinnerung bleibt an den Vater, der stets aktiv war, der Konflikte zu lösen verstand und den plötzlich, ohne Margot an seiner Seite, die Kraft verließ. Gudrun war zur Stelle. Das tat ihm gut.
Nach dem schweren Unfall seiner Margot konzentrierte sich Günter darauf, mit ihr künftig betreut zu wohnen, am Zeuthener See.
Als das möglich geworden war, reichte die Kraft nicht mehr, das Neue anzunehmen.
Für die wertvolle Zeit der Gemeinsamkeit bleibt innige, tiefe Dankbarkeit.
Was war das für ein Leben?
Wir wissen um die fortschrittliche Erziehung im sozialdemokratischen Elternhaus, die der Vision folgte, dass eine gerechtere Welt möglich ist.
Günters erste große eigene Erfahrung war die Kraft der Solidarität. Er erlebte sie, als nach der Ermordung des Vaters die Familie mittellos war.
Später sagte er, die Solidarität sei fest in seinem Bewusstsein verwurzelt.
Das erklärt, weshalb der junge Schlosser im Betrieb den französischen Kriegsgefangenen, die Zwangsarbeit leisten mussten, zu ihrem Nationalfeiertag eine Freude bereiten wollte und ihnen die Marseillaise auf seiner Ziehharmonika spielte.
Diese Handlung wurde zum Verbrechen gemacht, das die Einweisung ins Konzentrationslager Buchenwald zur Folge hatte.
Hier waren es erfahrene politische Häftlinge, die ihn in ihre Solidargemeinschaft aufnahmen. »Du musst überleben!«, war ihr erklärtes Ziel.
Und als er endlich nach Hause schreiben durfte, bat er die Mutter um Zwiebeln und Knoblauch.
Die Formulierung war die verabredete Codierung für die Zustandsbeschreibung: »Mir geht es sehr schlecht.« Die Mutter machte das scheinbar Unmögliche möglich durch uneigennützige, bedingungslose Solidarität mit dem Sohn.
Günter überlebte und der Schwur von Buchenwald, den er am 19. April 1945 leistete, wurde ihm, wie er immer wiederholte, Kompass für’s Leben. Mit dieser Einsicht befand er sich in Übereinstimmung mit seinen Kameraden.
Nach der Befreiung setzte sich Günter mit der Erfahrung von Buchenwald für die Vereinigung der beiden deutschen Arbeiterparteien ein, überzeugt,
dass das Gemeinsame Garant für den Aufbau der neuen Welt des Friedens und der Freiheit sein wird.
Die gebotenen Möglichkeiten sich zu bilden, nutzte er mit der Tatkraft der Jugend. In der SPD und später in der SED gehörte er zu denen, die antifaschistische Jugendarbeit leisteten. Seit ihrer Gründung war er Mitglied in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.
In dieser Zeit des Aufbruchs fanden sich Günter und Margot. Am 3. Mai 1952 heirateten sie und dann gab es bald die dreiköpfige Familie Pappenheim. Gudrun war geboren.
Aus dem Nichts den eigenen Hausstand zu gründen, erforderte Mut, Kraft, Geduld und beständiges Mühen.
Gudrun ging noch nicht zur Schule, Margot war von Beruf und Fürsorge um die Familie eingespannt, als Günter 1957 ein dreijähriges Studium in Moskau begann.
Er kam als diplomierter Gesellschaftswissenschaftler zurück und erhielt Aufgaben übertragen, die dieser Qualifikation entsprachen.
Die Stationen Bad Salzungen, Meiningen, Suhl, Moskau, Schmalkalden, Suhl, Berlin [hier beendete er ein weiteres Studium als Diplom-Ökonom], Luckenwalde, Potsdam und wieder Berlin sprechen für sich und lassen die Belastung für die Familie ahnen. Es gab aber nicht nur Last. Es gab vielfältiges Leben.
Schließlich entschied er sich im Januar 1990 für den Eintritt in den Ruhestand. Das Rentenalter war erreicht und die gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen erforderten seine persönlichen.
Jahre der Ruhe folgten nicht.
Die aus dem ursprünglichen deutschen Buchenwaldkomitee entwickelte Gruppe ehemaliger Häftlinge des KZ Buchenwald im Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR entschloss sich, die Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora als eingetragenen Verein zu gründen. Günter war dabei, als sich diese LAG schnell als bedeutsame Kraft in den politischen Auseinandersetzungen um das Vermächtnis des antifaschistischen Widerstands bewährte. Als »staatsnah« verächtlich gemacht, mussten die Kameraden um ihre Anerkennung als Opfer des Faschismus, als antifaschistische Widerstandskämpfer ringen. Die schamlose Behauptung vom »verordneten Antifaschismus« in der DDR wiesen sie konsequent zurück und kämpften um die Bewahrung der Würde verstorbener Kameraden. Gemeinsam mit den Überlebenden aus europäischen Staaten traten sie entschieden für die weitere Existenz der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten ein. Die Gleichsetzung von Faschismus und teilweise tragischen Entwicklungen im Ergebnis des Krieges wiesen sie mit ihrer Zeitzeugenschaft ebenso zurück wie die Lügen, die »roten Kapos« hätten im KZ genau so schändlich gehandelt wie die SS-Verbrecher.
Unter diesen außerordentlich komplizierten Bedingungen bewährte sich erneut eine unerschütterliche Solidargemeinschaft, deren Handeln gekennzeichnet war vom unbedingten Willen, die Aussage des Schwurs von Buchenwald als Vermächtnis des antifaschistischen Kampfes zu bewahren und Wirklichkeit werden zu lassen.
Günter war einer der Befürworter des Zusammenschlusses von ost- und westdeutschen Verfolgtenorganisationen zur Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Seit dem Vereinigungskongress im Oktober 2002 gehörte Günter dem Bundesausschuss der VVN-BdA an.
Schon 2001 hatte er die Nachfolge seines Kameraden Emil Carlebach angetreten und wurde im Internationalen Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos Erster Vizepräsident und Vertreter der ehemaligen deutschen Häftlinge.
Günter hatte zu den französischen Kameraden ein besonders enges Verhältnis. Zu Pierre Durand, Guy Decolonè, Floréal Barrier, Bertrand Herz und schließlich zu Agnès Triebel bestanden enge freundschaftliche Beziehungen.
Im September 2007 folgte Günter einer Einladung zur Teilnahme am Nationalkongress der französischen Widerstandskämpfer.
Er nahm seine Ziehharmonika mit nach Frankreich.
Die Ziehharmonika, auf der er 1943 die Marseillaise gespielt hatte.
Von seinem spärlichen Lehrlingsentgelt erspart, konnte er dieses schlichte Instrument anschaffen. Nach seiner Verhaftung fand die Mutter ein sicheres Versteck. Wieder zu Hause spielte er eines Abends, auf der Ziehharmonika, als sich bewaffnete Soldaten der Roten Armee Eintritt ins Haus verschafften und die Herausgabe verlangten. Es wurde nicht lange geredet und die Ziehharmonika war weg.
»Die siehst du nie wieder«, meinte Mutter Frieda. Nachbarn lästerten: »Schöne Freunde hast du, die dich beklauen.« Tage später erschien ein Offizier. Mit großer Entschuldigungsgeste brachte er die Ziehharmonika zurück, Brot, Speck, Zwiebeln und Wodka dazu.
Nun, 2007, übergab Günter den französischen Kameraden das Instrument und Guy Decolonè nahm das Geschenk ergriffen an. Anlässlich des Befreiungstages 2015 brachten die Franzosen die Ziehharmonika wieder mit nach Buchenwald und gaben sie auf dem Appellplatz zurück, verbunden mit dem Wunsch, sie möge in der neuen ständigen historischen Ausstellung der Gedenkstätte Buchenwald einen würdigen Platz finden.
Als Günter im Januar 2017 aus den Händen des französischen Botschafters die Insignien eines Kommandeurs der Ehrenlegion Frankreichs überreicht bekam, der Präsident der Republik Frankreich hatte ihn ernannt, stand neben Urkunde und Orden die Ziehharmonika auf dem Beistelltisch.
Lebendige Geschichte.
So wie Günter sie in seinen zahllosen Zeitzeugengesprächen vermittelte.
Zeitzeugengespräche waren ihm besonders mit Schülerinnen und Schülern wichtig. Gern war er bereit, er gab Interviews, Videointerviews wurden aufgenommen. Unter jungen Leuten fühlte er sich wohl. Größte Aufmerksamkeit fand bei ihm das Projekt »Wider das Vergessen«, das in Hoyerswerda von und mit Schülern unter Einbeziehung von Zeitzeugen seit vielen Jahren erfolgreich realisiert wird.
Geduldig und von dem Bewusstsein getragen, dass mit eigenem Erleben dargestellte historische Ereignisse nachhaltig zur eigenen Meinungsbildung beitragen, beantwortete er unermüdlich Fragen.
Für sein vielfältiges gesellschaftliches Engagement empfing der Antifaschist und Internationalist Günter Pappenheim Ehrungen und Auszeichnungen.
Dass der Vorsitzende der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora zum Kommandeur der Ehrenlegion ernannte wurde, bewertete er sehr hoch und er freute sich, dass die französischen Kameraden sich für diese Ehrung eingesetzt hatten.
Stolz war er, als ihn die Föderation der internationalen Widerstandskämpfer [FIR] in ihr Ehrenpräsidium aufnahm.
Dass ihm im hohen Alter der Verdienstorden des Freistaates Thüringen verliehen wurde und ihm die Stadt Weimar die Ehrenbürgerschaft antrug, erfüllte ihn mit Freude und Stolz. Dass der Stadtrat von Weimar mit seiner Ernennung zum Ehrenbürger zugleich beschloss, allen noch lebenden ehemaligen Häftlingen die Möglichkeit der Ehrenbürgerschaft einzuräumen, nahm er mit großer Genugtuung zur Kenntnis.
Wiederholt betonte er, dass er diese Auszeichnungen zugleich als Würdigungen des zivilgesellschaftlichen Wirken der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora und der VVN-BdA versteht. Die Arbeit des Kreisverbandes Dahme/Spree, dem er »vor Ort« angehörte, schätzte er hoch. Seiner Partei Die Linke, blieb er verbunden.
Günter und ich haben einige Jahre sehr eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet. Es kam vor, dass ich ihm am Telefon einen Text vorlas. Günter hörte zu, ohne zu unterbrechen. War der Text zu Ende, sagte Günter zumeist: »Ich habe noch zwei Bemerkungen.« Es blieb nicht bei zweien, er brachte ergänzende oder neue Gedanken ein, die selten Widerspruch hervorriefen. Zuhören, mitdenken, mitleben, einen Gedanken auf den Punkt bringen – Günter beherrschte das bewundernswert.
Sein letztes Statement gab Günter Pappenheim für das virtuelle Gedenken anlässlich des 76. Befreiungstages in Buchenwald am 20. März diesen Jahres. Darin heißt es:
Kriege sind in der Welt und es wird immer mehr getan, für neue Kriege aufzurüsten als dagegen. Von Freiheit wird geredet, aber greifbar ist sie nicht. Es werden zur Verhinderung von Freiheit immer neue Instrumente geschaffen.
Europaweit haben sich menschenfeindliche, aggressive Parteien und Gruppen ungehindert etablieren können. Sie sitzen in Parlamenten, sie beleben das Völkische, predigen Hass und Gewalt und: Sie werden von nicht wenigen gewählt. Dabei ist es nicht schwer, ihre Demagogie zu durchschauen.
Diese Tatsachen verlangen nach meinem Appell an Euch, die uns Nachfolgenden:
Bewahrt den »Schwur von Buchenwald« als das Vermächtnis des antifaschistischen Widerstands!
Lasst keine Möglichkeit ungenutzt, die Demagogen zu demaskieren.
In einer Welt des Friedens und der Freiheit bedarf es keiner Gewalt, keines Rassismus. Hass und das Recht des Stärkeren sind unmenschlich!
Ich wünsche Euch Gesundheit und Kraft, der Weg ist steinig, aber gemeinsam zu bewältigen.
Ich grüße Euch mit den Worten des tschechischen Antifaschisten Julius Fučik:
»[…] Und im Leben gibt es keine Zuschauer. […]
Menschen, ich hatte euch lieb. Seid wachsam!« [9. Juni 1943]
Das mag Günters Vermächtnis sein.
Danke Günter!
Gerhard Hoffmann, 5. Mai 2021