Esther Bejarano: offener Brief an die Regierenden und alle Menschen, die aus der Geschichte lernen wollen
29. Januar 2020
Esther Bejarano, Überlebende der KZ Auschwitz und Ravensbrück zum 27. Januar 2020: Dass Auschwitz nie wieder sei – und dieses Land sich ändern muss
Falls man dem Menschen die Möglichkeit geben will, aus der Geschichte zu lernen, wäre die erste Voraussetzung, dass er sich dieser Geschichte erinnert. Aber leider vergisst er so leicht, und oft vergisst er gerade die entscheidenden Lektionen.
(Lukas Bärfuss, Büchner-Preis-Rede 2019)
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin
und alle, die wollen, dass Auschwitz nie wieder sei!
Wo stehen wir – dieses Land, diese Gesellschaft – 75 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee?
Plötzlich gab es keine Nazis mehr, damals, 1945 – alle waren verschwunden. Uns aber hat Auschwitz nicht verlassen. Die Gesichter der Todgeweihten, die in die Gaskammern getrieben wurden, die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Albträume in den Nächten.
Wir haben das große Schweigen nach 1945 erlebt – und wie das Unrecht – das mörderische NS-Unrecht – so akzeptiert wurde. Dann erlebten wir, wie Nazi-Verbrecher davonkommen konnten – als Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regierung Adenauer. Wir lernten schnell: die Nazis waren gar nicht weg.
Die Menschen trauerten um Verlorenes: um geliebte Menschen, um geliebte Orte. Wer aber dachte über die Ursachen dieser Verluste nach, fragte, warum Häuser, Städte, ganze Landstriche verwüstet und zerstört waren, überall in Europa? Wen machten sie verantwortlich für Hunger, Not und Tod?
Dann brach die Eiszeit herein, der Kalte Krieg, der Antikommunismus. Es war ein langer Weg vom kollektiven Beschweigen bis zum Eichmann-Prozess in Jerusalem über die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main zu den Studentenprotesten in den 1968ern hin zur Fernsehserie “Holocaust” ab 1979. Nur zögerlich entwickelte sich das Bewusstsein, die Wahrnehmung des NS-Unrechts. Aber auch die Rechten, die Alt- und Neonazis und Auschwitzleugner formierten sich.
Inzwischen wird vom Erinnern und Gedenken als einer Gedenkkultur gesprochen. Wir spüren, wie tief viele Menschen bewegt sind, manche haben sich das “Nie wieder” zur Lebensaufgabe gemacht.
Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen aber nicht. Diese Betroffenheit muss zum Handeln führen, es muss gefragt werde, wie es so weit hat kommen können. Es muss gestritten werden für eine andere, bessere Gesellschaft ohne Diskriminierung, Verfolgung, Antisemitismus, Antiziganismus, ohne Ausländerhass! Nicht nur an Gedenktagen!
Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel haben am 6. Dezember 2019 in der Gedenkstätte KZ Auschwitz-Birkenau gesagt: “Umso klarer und deutlicher müssen wir bekunden: Wir dulden keinen Antisemitismus. […] Alle Menschen müssen sich bei uns in Deutschland, in Europa, sicher und zu Hause fühlen. […] Einen Schlussstrich kann es nicht geben – und auch keine Relativierung.” Diese Aufgabe ist noch nicht erledigt! Und ich füge hinzu: Das sind wir den Millionen Opfern der faschistischen Verbrechen schuldig!
Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren. Wir wollen uns nicht gewöhnen an Meldungen über antisemitische, rassistische und menschenfeindliche Attacken in Berlin und anderswo, in Halle, wo nur stabile Türen die jüdische Gemeinde schützten, aber zwei Menschen ermordet wurden.
Was können wir tun?
Ich will, dass wir alle aufstehen, wenn Jüdinnen und Juden, wenn Roma oder Sinti, wenn Geflüchtete, wenn Menschen rassistisch beleidigt oder angegriffen werden!
Ich will, dass ein lautes “Nein” gesagt wird zu Kriegen, zum Waffenhandel. Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.
Ich will, dass wir gegen die Ausbeutung der Menschen und unseres Planeten kämpfen, Hilfesu-chende solidarisch unterstützen und Geflüchtete aus Seenot retten. Eine Gesellschaft muss sich messen lassen an ihrem Umgang mit den Schwächsten.
Ich fordere entschlossenes Handeln gegen das Treiben der Neonazis, denn trotz Grundgesetz und alledem konnten Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als “Vogelschiss in deutscher Geschichte” und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als “Denkmal der Schande” sprechen, konnte der NSU ein Jahrzehnt lang ungestört morden und die Neonazi-Gruppe “Combat 18” frei agieren.
Ich fordere, dass die Diffamierung von Menschen und Organisationen aufhört, die entschlossen gegen rechts handeln. Was ist gemeinnütziger als Antifaschismus? Es ist auch unerträglich, wenn ein paar Antifa-Aufkleber in Schulen Anlass für Denunziationen über Petzportale von neurechten Parteien sind. Niemand sollte für antifaschistisches Handeln, für gemeinsame Aktionen gegen den Hass, gegen alte und neue Nazis diskreditiert und verfolgt werden!
Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Wie viele andere aus den Konzentrationslagern wurde auch ich auf den Todesmarsch getrieben. Erst Anfang Mai wurden wir von amerikanischen und russischen Soldaten befreit. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.
Und dann können wir, dann kann ein Bundespräsident vielleicht irgendwann sagen: Wir haben aus der Geschichte gelernt. Die Deutschen haben die entscheidende Lektion gelernt.
Mit freundlichen Grüßen
Esther Bejarano
(Vorsitzende)
Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V.