Rede der VVN BdA zum Tag der Mahnung in Frankfurt (Oder) 2013

9. September 2013

» […]Der Kampf, der Widerstand der illegalen Kämpfer gegen Hitler und seine Auftraggeber war hart und opfervoll. Es hieß nicht mehr reden, sondern schweigen und das Schweigen wurde denen, die längere oder kürzere Zeit mitgearbeitet hatten, von den Henkern der Gestapo oder SS nicht immer leicht gemacht bei den Vernehmungen. Wer […] Vernehmungen in diesen Gestapobüros durchgemacht hat, weiß, was es hieß zu schweigen, um zu verhindern, dass aus einem [Gefangenen, G.H.] zehn wurden. […]  Die illegalen Kämpfer während des dritten Reiches waren nicht gezwungen zu kämpfen […], niemand zwang sie, es gab niemand, der sie führte, der ihnen strikte Weisungen geben konnte, sie standen allein, sie wussten nicht, wer ihr Nebenmann war oder ihr Vordermann, sie wussten aber, hinter ihnen stand die Gestapo, stand die SS, stand das Gericht und der Scharfrichter. Und trotzdem haben diese illegalen Kämpfer aus eigener Überzeugung, aus eigenem Antrieb, ohne damit zu prahlen, ohne sich damit zu brüsten, ihren Mann gestanden […]«

Dies war ein Auszug aus der Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Frankfurt (Oder), Willy Jentsch, die er auf der Außerordentlichen Stadtverordnetenversammlung am Sonnabend, dem 11. September 1948 – fast auf den Tag vor 65 Jahren – im Ratssaal Logenstraße zur Ehrung der gefallenen Opfer des Naziregimes gehalten hatte. Das Protokoll vermerkt, dass sich alle Abgeordneten von den Plätzen erhoben hatten, um der Opfer des Faschismus zu gedenken, als der Oberbürgermeister deren Namen verlas.

1933 war Willy Jentsch Unterbezirkssekretär der SPD für Frankfurt (Oder), Lebus, Ost- und Weststernberg. In der Wiesenstraße 21 [heute Słubice] wohnte er mit seiner Familie. Im März 1933 verhafteten ihn die Nazis und verschleppten ihn in das berüchtigte Konzentrationslager Sonnenburg [heute Słońsk]. Nach seiner Entlassung aus dieser Folterhölle im September 1933 arbeitete er illegal weiter gegen die Nazis. Nach erneuter Verhaftung im Dezember 1935 wurde er vom III. Strafsenat des Kammergerichts Berlin-Moabit wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Strafe verbüßte er in den Zuchthäusern Luckau und Zwickau. Nach Verbüßung der Strafe kam er am 1. September 1938 als so genannter Schutzhäftling in das Konzentrationslager Buchenwald. Einbezogen in die konspirative Arbeit der illegalen Parteiorganisation der KPD im KZ Buchenwald, gehörte der als »politisch rückfällig« gekennzeichnete Häftling mit der Nummer 5754 zu jenen, die auch unter den furchtbaren Lagerbedingungen Widerstand gegen die SS organisierten und leisteten, die durch persönlichen Einsatz, das eigene Leben gefährdeten, um anderen das Leben zu retten und die schließlich mit ihren illegal beschafften Waffen am 11. April 1945 die Befreiung des KZ von innen und außen einleiteten.

Im KZ Buchenwald schrieb Willy Jentsch am 7. Januar 1945:
»Sonntag! Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Sonntag und Alltag? Ein Tag wie jeder andere. Eintönig wiederholt sich alles tausendfach. Ein Unglücklicher schleicht hinter dem anderen. Einer kennt den anderen nicht, er versteht nicht seine Sprache und weiß nicht, was er denkt und empfindet. Aber alle vereint mehr oder weniger ihr gemeinsames Schicksal und ihr gemeinsamer Hass. Viele verzweifeln und wagen es nicht, weiter zu leben, weil ihnen mit ihrer Freiheit jeder innere Halt genommen ist. […] Andere blicken der harten, grausamen Gegenwart trotzig und der Ungewissheit mutig entgegen und erwarten voller Hoffnung die Zukunft. Sie finden sich in Gruppen zusammen […] Diejenigen, welche sich ihre Persönlichkeit und ihr Selbstbewusstsein erhalten haben, suchen das Gute […] «
Und am 9. Februar 1945 schrieb er:
»Diese Zeilen schreibe ich, weil ich nicht weiß ob ich jemals dieses Lager wieder verlassen werde und weil ich nicht will, dass alles wieder vergessen wird, was sich hier ereignet hat […] «
So eingeleitet, schrieb Willy Jentsch seinen Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald.
Er überlebte.
Am 1.Juli 1945 traf er zu Fuß in der zerstörten Stadt Frankfurt (Oder) ein. Am 26. Juli 1945 wurde er zum Stellvertretenden Oberbürgermeister ernannt und zum Bürgermeister gewählt.
Am 19. Februar 1949 trat er die Nachfolge des Oberbürgermeisters Oskar Wegener an, mit 38 Ja-Stimmen, 1 Gegenstimme und 8 Enthaltungen wurde er zum Oberbürgermeister gewählt. Er blieb in dieser Funktion, bis er 1956 wegen in der Haft erlittener gesundheitlicher Schädigungen ausscheiden musste.
Willy Jentsch war einer der 21 000 Häftlinge, die am 19. April 1945 auf dem Appellplatz in Buchenwald den Buchenwaldschwur leisteten – mit den Kernsätzen
»Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Die Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.«
Willy Jentsch lebte diesen Schwur bis zu seinem Tod.
Sein Vermächtnis zu bewahren bedeutet, den Schwur nicht allein zu zitieren, sondern ihn vollständig und in seiner gültig gebliebenen Substanz  zu begreifen und  sich den aktuellen Herausforderungen konsequent zu stellen.

Gerhard Hoffmann, 8. September 2013